Von Peter Lahr
Unterschefflenz. "Ihr könnt euch jetzt gar nicht vorstelle, was sich in meinem Kopf abspielt." Sichtlich überwältigt war Jazztrompeter Ingolf Burkhardt, als er am Samstagabend in der evangelischen Kirche Unterschefflenz auftrat. Dort, wo er bereits als Jugendlicher spielte, kehrte er als dienstältester Musiker der NDR-Big-Band zurück. Sein "Heimspiel" bestritt der Wahl-Hamburger, der den Unterschefflenzer Dialekt immer noch fließend beherrscht, aber nicht alleine. Ihn begleitete Gitarrist Roland Cabezas, der auch in seiner Jazz-Combo "Jazul" mitspielt. Folgerichtig hieß das Pogramm "Not Alone".
Dank vieler freundschaftlich verbundener Zuhörer war die Atmosphäre so intim wie in einem Wohnzimmer. Gleichwohl war die Kirche so voll wie sonst eher an Weihnachten oder Ostern. Dass Burkhardt auch in der großen weiten Welt seine Wurzeln nicht vergisst, belegte gleich der Titel des ersten Songs. Als unfreiwillige Namensgeberin habe "Tante Fried" mitgewirkt, die den jungen Musiker vor rund 25 Jahren besorgt fragte: "Aber sag emol, schpiels du des Jazz do? Du kannsch doch so schön Trompete schpiele." Dass sich beides nicht unbedingt ausschließen muss, also Jazz durchaus schön klingen kann, bewies der Opener: "Des Jazz do".
Roland Cabezas legte halsbrecherisch los. Flirrend klinkte sich bald Ingolf Burkhardt ein. Das flotte, sambakompatible Stück ging in die Beine, ging ins Blut, ging in den Kopf. "Das kommt nicht aus Portugal oder Brasilien, das kommt aus Unner", betonte der Trompeter.
"Wir spielen die Sache, die wir am besten können. Es gibt nichts Schöneres, als diese freie Musik - dazu in dieser Kirche, das ist was ganz besonderes." Bevor Burkhardt noch die Rührung übermannte, ging’s schnell weiter im Programm. Chet Bakers Version von "Alone Together" stand Pate bei der nächsten Nummer. Die beiden Musiker ließen es swingen und schwebten. Offenbarten dem Publikum ein Universum an Tönen. Ritten gemeinsam in den Sonnenuntergang, galoppierten durch diverse Milchstraßen und wachten wieder auf in einsamer Großstadtnacht.
Entspannt wie die Filmmusik zu einem Roadmovie klang Pat Methenys "Travels". "Für mich sind das Americanas, kein Jazz und kein Folk", erläuterte Burkhardt und sah vor seinem geistigen Auge die weiten amerikanischen Horizonte des Mittleren Westens. Traumhaft schön gelang dieses Kopf- und Ohrenkino. Nils Landgrens "High Heel Sneakers" (Hochhackige Turnschuhe) mutierte vom Folksong zum Blues. Aber für einen solchen knallte es ziemlich rein. Irgendwann hielt es Ingolf Burkhardt nicht mehr auf seinem Hocker, er stand auf und fetzte Töne aus seinem Instrument, die einen Frosch im Vollmondrausch neidisch gemacht hätten.
Dass der so hanseatisch unterkühlt schnackende Roland Cabezas neben seiner feurigen Gitarre auch noch einer weiteren Passion huldigt, bewies er bei einem Stück aus Gordon Summers (Sting) zweitem Studio-Album "…Nothing Like the Sun". Aus "Fragile" wurde in der spanischen Version "Fraginidad". Wie bei einer Corrida ging es auch hier um einen Moment, von dem das Schicksal der Welt abhängt. Burkhardts Trompete goss noch Öl ins Feuer.
Voller Furor ging das Duo George Gershwins "Summertime" an. Sie zogen gewieft an der Temposchraube und beglückten die über Wiesen gaukelnden Bienen mit "Bodybeats", die es in sich hatten. Das hatte Klasse, Stil und Charme. Man erahnte, wie Biene Maja vor Vergnügen kreischte, als es die Achterbahn durch den Looping hinab ging.
Nach der Pause durfte das Publikum als Drumset herhalten und den Crusaders-Hit "My Mama Told Me So" hochprofessionell begleiten. Als persönlichen Willkommensgruß an alle Flüchtlinge im Publikum gab es den Song, mit dem alle Hamburger Radiosender ein Zeichen setzten: Mittags um 12 Uhr spielten sie John Lennons "Imagine".
Mit der Eigenkomposition "Mar Abierto" verbeugte sich Cabezas vor der "ewigen Musik, dem Kommen und Gehen der Wellen". Stehende Ovationen gab es nach zwei weiteren Klassikern in sehr persönlichem Jazzgewand: Auf Antônio Carlos Jobims Bossa Nova "Wave" folgte Louis Armstrongs "Wonderful World." Trotz allem und erfrischend anders.